Episode 06: Die Wunder

Tales On Demand

18-08-2024 • 11 Min.

Ein dunkelroter Sonnenball hob sich träge über den Rand eines dichten, dunkelgrünen Waldes und beleuchtete die kleine Gruppe einfach gebauter Holzhäuser eines unbekannten Landes. Als hätte die Sonne die Luft verdrängt, blies im gleichen Augenblick ein starker Luftschauer über das Dorf und das dahinter liegende Grasland und malte eigenförmige Muster zwischen die Ähren der blühenden Gräser. Die Muster wurden zu kleinen Abdrücken des „Nichts“ und erzählten auf diese Weise aus dem Leben des Windes.
Ein alter, runzliger Kobold, der es sich während der Nacht auf dem Holzdach eines der Häuser bequem gemacht hatte, schlug überrascht die Augen auf. „Hmm, Sonne“ zischte er ärgerlich, konnte es aber nicht lassen, den Feuerball für einige Sekunden fasziniert anzustarren. Als er aus dem Inneren des Hauses, auf dessen Dach er die Nacht verbracht hatte, ein dumpfes Rumpeln und daraufhin ein eigentümliches Klopfen hörte, stand er auf.  „Vielleicht wird es ein guter Tag, vielleicht aber auch ein schlechter“ brummte er, während er schwerfällig vom Dach stieg. „Ich glaube aber, dass es heute ein guter Tag werden könnte!“ murmelte er noch. Kurz darauf war er unter den dichten Grashalmen verschwunden.
Eine junge, hübsche Frau öffnete die einfache Türe ihres Hauses, streckte sich ein wenig und blickte sich um. „Ein wunderbarer Morgen!“ flüsterte sie, während sie die Sonne bewunderte. Auf einer kleinen Bank neben ihrer Hütte, lag eine schlafende,  schwarze Katze. Die Frau setzte sich vorsichtig, ohne das Tier zu wecken und streichelte sie. Die Katze ließ sich das gerne gefallen, streckte ihre Arme und Beine weit aus und öffnete schließlich schlaftrunken ihre Augen. Ein Kind streckte seinen Kopf aus der Tür der Hütte und blickte zu seiner Mutter. „Mama!“, fragte er, gibt es eigentlich ein Wunder? „Ob es ein Wunder gibt?“ Die Frau legte ihren Kopf etwas schief und dachte nach. „Komm, wir gehen ein Stück und versuchen, auf deine Frage eine Antwort zu finden!“ Sie hatte zwar noch keine Vorstellung davon, ob sie ihrem Sohn die „Wunder“ würde zeigen können, aber vielleicht fiel ihr ja unterwegs etwas ein. Zu ihrem eigenen Erstaunen begann das Wunder nur wenige Ellen von ihrer Hütte entfernt: 100erte Blütenblätter der unterschiedlichsten Farben waren hier von jemandem auf dem Weg verstreut worden. Nasdra – so hieß die Frau – nahm ihren jungen Sohn Imson an der Hand und gemeinsam setzten sie behutsam ihre Schritte über das Blütenmeer. Auf beiden Seiten des Weges standen zarte, winzig kleine weibliche Wesen, die aus unscheinbaren Körben Blütenblätter auf den Weg warfen. Dabei sangen sie Lieder in einer unbekannten Sprache, hielten sich an ihren winzigen Händen, drehten sich im Kreis und begleiteten Nasdra und Imson für eine kurze Zeit. „Äh“ flüsterte die Frau ihrem Sohn ins Ohr.  „Das hier, das ist auch ein Wunder! Blütenfeen lassen sich nur selten blicken, vor uns Menschen verbergen sie sich normalerweise sowieso!“

Sie gingen weiter und ließen die Feen hinter sich. Nach kurzer Zeit führte sie der Fußweg an einem kleinen Bach entlang, bis sie ein dicht gewachsenes Erlenwäldchen erreichten. Doch kaum waren sie einige Ellen entlang des Wäldchens gegangen, da bemerkte die Frau, dass auf einigen Erlenstauden Laternen hingen, deren fahles, gelbrötliches Licht das Glas der Laternen von Innen leuchten ließ. Nasdra und Imson blieben erstaunt stehen, als sie bemerkten, dass knapp fingergroße, menschenähnliche Wesen auf den Ästen der Erlen saßen und sie anstarrten. Die Wesen schienen erfreut zu sein, sie zu sehen, zugleich war deren Verhalten schüchtern und vorsichtig.  Eines der Wesen balancierte über einen Erlenzweig, bis es so nahe wie möglich bei der Frau stand. Nasdra beugte sich nach vorne, immerhin hielt das kleine Kerlchen einen winzigen Krug in der Hand und schien ihr etwas sagen zu wollen: „Wir, die Hüter des Erlenwäldchens möchten uns bei dir bedanken!“ Und bevor die Frau fragen konnte, wofür sie sich bedanken wollten, reichte das Wesen ihr den Krug, den sie gerade zwischen zwei Fingern halten konnte. „Trink das, es gibt dir die frische Energie gesunder Heidelbeeren!“  flüsterte das Wesen etwas beschämt, wie es ihr vorkam. Gleich danach drehte es sich um und kletterte zu den anderen zurück. Die Frau nahm einen Schluck aus dem Krug, und obwohl es nur wenige Tropfen waren, hatte sie das Gefühl, dass reine Energie in ihren Körper floss. „Das war ein weiteres Wunder!“ murmelte sie mehr zu sich als zu ihrem Sohn, während sie weitergingen.

Am Ufer des Flusses standen ein Zwerg und ein Halbling,  sie kannte beide aus einigen, wenigen Begegnungen, als sie noch in ein Abenteuer verstrickt war zu einer Zeit, als sich Halblinge und Zwerge nicht besonders gut leiden konnten. Als sich Nasdra und Imson den beiden näherten, schien es, als würde der Zwerg den Halbling mit dem Ellbogen in die Hüfte stoßen, die beiden erröteten leicht, stimmten dann gemeinsam ein Lied an, wobei der Halbling auf einem schmalen, unförmigen Stück Holz mit einer Reibe auf und ab fuhr und auf diese Art Töne aus dem Holz hervorlockte. Der Text des Liedes handelte über eine Heldin der nahen Vergangenheit, die das Leben und die Welt der Zwerge und Halblinge verändert hatte.
Als der Gesang langsam ausklang, holte der Zwerg hinter seinem Rücken einen Blumenstrauß hervor und überreichte ihn der „Heldin“. „Das ist für alles, was du für unsere Völker getan hast, wir haben uns nie richtig bei dir bedankt, durch deine Bemühungen hast du Morlin, den Zwerg und mich, den Halbling Rogumand Merogut, damals zusammengebracht und zu Freunden werden lassen, während unsere beiden Völker untereinander völlig zerstritten waren. Seitdem wird alles so, wie es nie war, nicht nur zwischen uns beiden, sondern auch zwischen den Halblingen und Zwergen der ganzen Region!“

Nun war es an der Frau zu erröten, sie blickte zu ihrem Sohn. „Hast du das alles …? Noch bevor Imson antworten konnte, traten Halbling und Zwerg zur Seite. Unter einem hohen Atlasbaum stand eine festlich gedeckte Tafel. Junge Zwergenfrauen liefen hin und her, brachten allerlei Früchte und Speisen in kleinen Schüsseln und Tellern herbei und stellten alles auf den Tisch. Am Ende der Tafel saß ein runzliger Kobold, der zu lächeln versuchte, was ihm aber nicht ganz gelang. „Ja, dein Sohn hat uns ein Zeichen gegeben, als ihr die Hütte verlassen habt, geplant haben wir das aber alle gemeinsam!“ sagte er schließlich. „Du hast nicht nur die Zwerge und Halblinge zu Freunden werden lassen, du hast auch – ohne es immer zu wissen – die Lebewesen dieser Gegend geehrt, du hast neue Blumen gepflanzt, den Bienen Nahrung gegeben, die Natur und ihre Schätze bewahrt, die Kobolde ihren Schabernack treiben lassen und .. und uns allen einfach immer ein gutes Gefühl gegeben. Wir lieben das und dich alle sehr!“ Kurz zögerte der Kobold, dann sagte er augenzwinkernd und schon beinahe lächelnd: „Und außerdem kochst du so gut, dass wir es dir nachmachen wollen! Aber da müssen wir noch so manches lernen… “ Nach diesen kleinen Ansprachen schauten alle voller Erwartung zu Nasdra, die einfach nicht wusste, was sie sagen sollte. Sie hatte Tränen in den Augen. Schließlich drehte sie sich erst Imson, dann allen anderen entgegen und sagte: „Ich danke euch sehr, die Wunder, die Wunder sind vielleicht immer dort, wo man sie am wenigsten erwartet! Ich bin so glücklich!“ Dann umarmte sie erst ihren Sohn, dann den Zwerg, den Halbling und den Kobold, fuhr schließlich vorsichtig den Blütenfeen durch die Haare bis sie an der Tafel anlangten und mit dem Frühstück begannen…  Nach und nach gesellten sich andere Bewohner der Wiesen, Haiden und Wälder dazu und feierten gemeinsam ein ausgelassenes Fest bis spät in die Nacht…

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