Es war einmal ein Mädchen, das mochte zum Leidwesen seiner besorgten Eltern nicht sprechen, obwohl es längst schon in einem Alter war, in welchem sich Kinder üblicherweise bereits gut verständigen konnten. Ohne auch nur ein einziges Wort von sich
zu geben, verbrachte es seine Tage hauptsächlich damit, in den Himmel zu starren. Alle Ärzte, die es untersuchten, standen vor einem Rätsel. „Ihr Kind ist kerngesund. Wir wissen leider nicht, warum es nicht spricht und ständig zum Himmel blickt“, meinten sie zu den Eltern, die darüber sehr betrübt waren, dass niemand ihrer Tochter zu helfen vermochte.
Schließlich schickten sie in ihrer Verzweiflung nach einer Wahrsagerin und Hellseherin, welche im Rufe stand, über geheimes Wissen zu verfügen. Die alte Frau kam noch am gleichen Abend in das Haus der Familie und betrachtete das Kind lange. Dann meinte sie mit krächzender Stimme: „Ich muss eure Tochter über Nacht beobachten. Bitte besorgt mir einen weichen Stuhl für meine alten Knochen, ich will an ihrem Bett über sie wachen. Ihr dürft aber keinesfalls Nachschau halten und uns stören.“ Verwundert willigten die Eltern ein, brachten einen gemütlichen Sofasessel und verließen
das Zimmer.
Ohne sich weiter um seinen Gast zu kümmern, begab sich das Mädchen zu Bett und schlief bald darauf ein. Die Alte aber hielt die Augen offen und harrte der Dinge, die da kommen mochten.
Es war schon weit nach Mitternacht, als sich plötzlich die Fensterflügel lautlos öffneten. Ein zarter Windhauch strich in das Zimmer und erfüllte es mit einem eigentümlichen, feinen Duft nach Blüten und Meerwasser. Gleich darauf glitt eine leuchtende Gestalt in
Form eines langschwänzigen, bunt geschuppten Fisches in das Zimmer. Langsam begann das Mädchen mitsamt seinem Bettchen zu schweben und verschwand in Begleitung des wundersamen Wesens, um einige Zeit später auf ebenso rätselhafte Weise wieder zu
erscheinen. Die Alte aber, bei der es sich in Wahrheit um eine Weiße Hexe handelte, hatte genug gesehen. Nun wusste sie, dass das Mädchen von einem Traumfisch in das Reich des Sandmanns entführt wurde, wo es so unvergleichliche Erlebnisse hatte, dass das irdische Dasein dagegen verblasste und es nicht mehr kümmerte.
Am nächsten Morgen verabschiedete sie sich von den Eltern, versprach am Abend wiederzukehren und eilte in ihre Küche. In ihrem großen Kessel braute sie einen Trank, der dem Mädchen dabei helfen sollte, dem Ruf des Traumfischs zu widerstehen. Abends hieß sie dann die Eltern, das bittere Gebräu unter einen süßen Brei zu mischen und es ihrer Tochter zu essen zu geben. Dann begab sie sich mit dieser wieder in das Schlafgemach, um über sie zu wachen.
Tatsächlich wiederholte sich zunächst das Spiel der vergangenen Nacht. Doch dieses Mal entschwebte das Kind nicht mit dem Traumfisch, welcher bald wieder verschwand. Als es am nächsten Morgen die Augen aufschlug, sagte es klar und deutlich: „Ach, wie
habe ich gut geschlafen! Was für ein herrlicher Morgen! In der letzten Zeit habe ich so viel geträumt!“ Da wusste die Hexe, dass sie das Mädchen aus dem Griff des Traumreichs befreit hatte und übergab es seinen überglücklichen Eltern.
Sobald das Kind aber alt genug dafür war, begann es seine Erlebnisse in der Traumwelt niederzuschreiben und wurde eine berühmte
Schriftstellerin und Märchenerzählerin.